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Gegenwissen


Noch mehr Bochum: die „Jahrestagung der Gesellschaft fĂŒr Geschichte der Wissenschaften, der Medizin und der Technik“, auch bekannt (aber ebenso schwer zu merken) als GWMT, steht 2018 unter dem Motto „Wissen und Umwelt“, was wir zum Anlass genommen hatten, zusammen mit Anna Maria Schmidt (UniversitĂ€t Duisburg-Essen) und Alexander von Schwerin (MPIWG) eine Session zum Thema „Gegenwissen“ einzureichen 
 mit mehr oder weniger viel lip-service-payment zum Tagungsthema. Konkret geht’s um „Gegenexperten: Umweltwissen und neue Epistemologien rund um die Startbahn West-Bewegung“ (Nils GĂŒttler), „Gegenwissen im BĂŒro: Post-industrielle Psychologie und Bildschirmarbeit, 1975-1985“ (Max Stadler), „Wissen in technikkritischen Bewegungen: Das Essener Gen-Archiv und dessen Rolle bei der Wissensproduktion der „Anti-Gentechnik-Bewegung““ (Anna Maria Schmidt) sowie „Die Verwandlung: Vom Wissen zum Gegenwissen“ (Alexander von Schwerin). Folgendes stand dazu im Programm:

„Gegenwissen“ war ein in der Umweltbewegung der siebziger Jahre aufgekommenes Schlagwort. Gemeint war damit die Notwendigkeit, Wissen gegen die Deutungshoheit etablierter Instanzen zu sammeln, bereitzustellen oder auch selbst erst zu generieren. Gegenwissen sollte den politischen Kampf gegen die Atomenergie, gegen Umweltverseuchung und ihre potentiellen und bereits eingetretenen Folgen und gegen die Bedrohungen der Gentechnik unterstĂŒtzen. Gegenwissen gehörte zur politisch-epistemischen Infrastruktur der Umweltbewegung. Gegenwissen entstand aber auch in weniger bewegungslastigen Kontexten als Reaktion etwa auf die technischen VerĂ€nderungen der Arbeitsumwelt. 

Mit Gegenwissen in den Alternativbewegungen und gewerkschaftlichen Kontexten der siebziger und achtziger Jahre thematisieren wir in dieser Sektion ein PhĂ€nomen, das sicherlich charakteristisch ist fĂŒr die gesellschaftlichen VerĂ€nderungen im Nachklang von „1968“ (unser Beitrag deshalb zum 50-jĂ€hrigen JubilĂ€um). Im Gegenwissen dieser Zeit, so scheint es auf den ersten Blick, verlĂ€ngerte sich die eingeĂŒbte politische SelbstermĂ€chtigung der Studierenden von 1968 hinein ins Wissenschaftliche. Geimpft mit dem Praxis-Primat konnte es bei bloßer Kritik nicht bleiben, so nahm man in den nachfolgenden Jahrzehnten die Wissensaneignung selbst in die Hand. Dass sich diese Wissensaneignung dann insbesondere auf technische Innovationen und ihre Folgen bezog, mag gerade den drĂ€ngenden Umweltproblemen seit den siebziger Jahren geschuldet sein. 

Auch wenn wir in dieser Sektion auf die Umweltproblematiken der siebziger und achtziger Jahre fokussieren, ist doch klar, dass Gegenwissen kein neues PhĂ€nomen ist. Zu denken ist etwa an die Formen alternativen Körper- und Medizinwissens, das Akteure außerhalb von UniversitĂ€t und Kliniken dem etablierten Medizinwissen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entgegengestellten. Insgesamt ist jedoch noch wenig ĂŒber dieses PhĂ€nomen bekannt. Noch weniger wissen wir, was genau Gegenwissen ist oder wie wir es fassen sollen. Auf jeden Fall lebt es von einem VerhĂ€ltnis, seinem VerhĂ€ltnis zum (oftmals als etabliert denunzierten) wissenschaftlichen Wissen. Dies ist auch der Ausgangspunkt unserer AnnĂ€herung an das PhĂ€nomen, insofern alle VortrĂ€ge diese sehr variablen VerhĂ€ltnisse unter die Lupe nehmen.