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New Age Afterlives


«Critical Thinking» nennt sich an der ETH, was (selbst an technischen Hochschulen) wohl einmal «Geistes- und Sozialwissenschaften» geheissen hätte. Und einiges mehr. Was genau alles darunter zu verstehen ist, davon konnten wir uns Ende des Monats ein Bild machen. Und zwar beim ersten (und womöglich letzten) «Critical Thinking Market» im Kunstraum Walcheturm. (Æther wurde netterweise von der ETH «Critical Thinking»-Initiative unterstützt, daher). Uns zwischen Yoga-retreats, bastelnden Physiker_innen, Coaching-Selbsthilfegruppen und 360-Grad-Assessments wiederzufinden, war uns nicht so ganz geheuer; immerhin sind wir professionell deformiert genug, so dass wir dem dennoch etwas abgewinnen konnten.

Dass die ETH (oder vorsichtiger: Splittergruppen innerhalb derselben) nicht erst seit Neuestem als enabler «ganzheitlicher» Kunst-Wissenschafts-Erfahrungen auftritt, war uns jedenfalls schon bekannt. Noch besser: tatsächlich lässt sich eine (ziemlich gerade) Linie ziehen, von besagter «Critical Thinking»-Initiative hinein in die frühen 1980er Jahre: hin zu Projekten, die zwar irgendwie gleichursprünglich mit deren latent zwischen unternehmerischer Universität, «creativity»-Imperativ und New Public Management angesiedelten Bausteinen sein mögen, dabei jedoch auf deutlich andere Wurzeln verweisen. Case in point: Die erste «Cortona-Woche» — «für Doktoranden und Studenten der ETH» —, die im Herbst 1985 über die Bühne ging, nahm (reportedly) in der Tagung «Andere Wirklichkeiten: Die neue Konvergenz von Naturwissenschaften und spirituellen Traditionen» ihren Ausgang. «Andere Wirklichkeiten» hatte zwei Jahre zuvor, im September 1983, in Alpbach/Tirol stattgefunden (veranstaltet vom «Forum International», Freiburg/Breisgau). Das who-is-who der ganzheitlichen Wissenschaft — Rupert Sheldrake, Fritjof Capra, David Bohm, Francisco Varela, Morris Berman — und selbst der Dalai Lama waren dort, nebst 350 Schaulustigen, zugegen. (Der XIV. Dalai Lama tourte 1983 nämlich gerade durch Deutschland, Österreich und die Schweiz (u.a. mit Abstecher ans CERN, um sich dort die «W»- und «Z»-Bosonen anzukucken)).

Und auch Pier Luigi Luisi vom «Institut für Polymere» (ETH-Departement Chemie) war in Alpbach gewesen; und offenbar beeindruckt genug vom dortigen Treiben bzw. dem dort verkündeten «neuen Paradigma» — «Jeder besitzt ein schimmerndes Juwel», «Gibt es eine Welt da draußen?», «Wie die Welt entzaubert wurde», usw. —, um selbigem auch an der ETH mehr Raum verschaffen zu wollen. Was er dann — via Cortona/Toskana — auch tat (mit freundlicher Unterstützung von Branco Weiss). Dies war deshalb notwendig, sagte Luisi 1985, weil «the specialized scientist, which our Universities produce and nourish, is no longer fit to cope with the multidimensional set of problems of the world we live in.» Das sagt die ETH-Führungsetage zwar eigentlich noch immer (oder mittlerweile auch). Weil: we live in a «VUCA world» [sic]. Nur die Produktionsmethoden in punkto specialized scientist haben sich natürlich einigermassen gewandelt (start-up-Kurse, «leadership»-Seminare, «design-thinking», …). Vielleicht aber besteht ja Hoffnung; über dem «Critical Thinking Market» wehte jedenfalls (teilweise) noch recht merklich so ein Hauch von «body work», Obertonmusik und «Freie[m] Malen im Raum zwischen Rationalitat und Utopie». Eigentlich ein bisschen schade also, dass mit der Emeritierung von Gerd Folkers (Präsident des schweizerischen Wissenschafts- und Innovationsrats, no less) die Critical-Thinking-Initiative sich wohl noch etwas weiter von ihren Wurzeln entfernen wird.

Cortona, 1985: Tag 2 und Tag 3