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40 Jahre Wechselwirkung


Mehringhof, West-Berlin.

»Das Bild der Wissenschaft ist immer noch hochglänzend, unterhaltsam und ästhetisch ansprechend. Der Reiz der modernen Magie zieht noch. Das Bild vom spektakulären Ergebnis verbirgt weiterhin die Arbeitswirklichkeit des Labors und die Macht- und Interessenverhältnisse in der wissenschaftlich-technischen Produktion. Das Selbstverständnis der Forscher und Entwickler als Wahrheitssucher und Fortschrittsmacher ist ungebrochen und wird sorgfältig und aufwendig gepflegt. Die Interessenlage ist klar: Ein Blick in die Anzeigenseiten jener Hochglanzzeitschriften oder auf die Listen der Vorstandsmitglieder des Vereins Deutscher Ingenieure oder der Gesellschaft Deutscher Chemiker genügt. Für eine radikale, politische Diskussion ist hier kein Platz. Aber es wird Zeit. Wenn sich Naturwissenschaftler in Bürgerinitiativen mit den Folgen der eigenen Arbeit auseinandersetzen und ihre Fähigkeiten gegen die Interessen bestimmter Gruppen einsetzen, wenn sich Ingenieure oder Wissenschaftler um die Bedingungen kümmern, unter denen sie ihre Arbeitskraft verkaufen, wenn sie in Gewerkschaften aktiv sind und nach der Verwertung ihrer Arbeitsergebnisse fragen, dann ist es auch nötig, ein Diskussionsforum zu haben für den Austausch von Erfahrungen, für Informationen, Analysen, Perspektiven. Anlässe und Themen für eine solche Diskussion gibt es genug.«

… So konnte man das lesen, vor ziemlich genau 40 Jahren (+ 9 Monaten), im Auftakt-Editorial der Zeitschrift »Wechselwirkung. Technik - Naturwissenschaft - Gesellschaft«. Die »Wechselwirkung«, mit Hauptsitz in West-Berlin, sollte sich im Anschluß tatsächlich schnell zu einem maßgeblichen Forum für Wissenschafts- und Technikkritik im deutschen Sprachraum mausern – in etwa analog zu (andernorts) Zeitschriften wie SftP, Processed World, Undercurrents, Scienza Esperienza, naturkampen, terminal 19/84 … (alles Projekte, mit denen man auch mehr oder weniger eng in Kontakt stand).

Anlässe und Themen gab es genug: »Volkstechnologien« in Venezuela, Techsploitation auf den Philippinen (»internationale Arbeitsteilung«), Rationalisierung qua Mikrochips zuhause, die kommende ökologische Katastrophe, die Geschichte der Haushaltsgeräte, »Weibliche Wissenschaft«, der Umgang der Gewerkschaften mit dem »Fortschritt«, High-Tech-Aufrüstung, Medizin im Nationalsozialismus, usw. »Es war … eine Zeit«, so sinnierte ein Redaktionsmitglied 1988 im Rückblick, »in der … deutlich wurde, daß Wissenschaftler_innen - und dies meint hier im engeren Sinne die Natur- und Ingenieurswissenschafler_innen - ihren akademischen Elfenbeinturm verlassen und sich konkret gesellschaftlichen Prozessen stellen mußten.« Die Null-Nummer (s.u.) erschien im Januar 1979, was wir, kurz vor Ende 2019, hier mal als Anlass nehmen wollen, ein bisschen commemoration zu betreiben. (Haben wir zwar schon mal: hier und hier).

(Wir hätten es trotzdem fast vergessen, hätte nicht Reinhard Behnisch, der hauptamtliche Herausgeber 1979-1990, die Tage einen wikipedia-Eintrag angelegt).

Schwerpunkt: Soziale Auswirkungen neuer Technologien.

Gratulieren kann man zwar nicht so wirklich, weil sich die Zeitschrift 1989/1990 in der ursprünglichen Formation quasi-selbstaufgelöst hat. (»Mittlerweile findet sich selbst in der ›FAZ‹ so etwas wie Wissenschafts- und Technikkritik« hieß es damals, »und auch die Dossiers in der ›Zeit‹ sind in mancher Hinsicht besser als das, was wir produzieren. […] und es gibt Umweltministerien, von denen manche gar nicht mal schlecht besetzt sind, es gibt Institute, die sich um Technik und Gesellschaft sorgen […] und so weiter. […] Die Wechselwirkung hat ihre kleine Rolle gespielt […] also Schluss damit.«)

Seit unserem Interview mit den ehemaligen Wechselwirkungs-Macher_innen Barbara Orland, Elvira Scheich und Reinhard Behnisch im März 2016 hat sich immerhin einiges getan (bzw. auf front-page-news-Niveau gesteigert), das den Verdacht nahelegt, dass das vielleicht etwas voreilig war (und zumal die ›FAZ‹ war dann doch eher mit dem Feiern von Biotech, internet, usw. beschäftigt) – »tech worker movement«, FFF, Klimakrise, #metoo, »post-Truth«, collectivize-the-internet … über einen Mangel an Anlässen und Themen kann man sich nicht beschweren, über fehlende Foren eigentlich auch nicht; war es akademischen Karrierewegen allerdings schon damals nicht unbedingt förderlich, sich allzu weit von der Spur zu betätigen, diesseits und/oder jenseits des Elfenbeinturms, sieht das 40 Jahre und viel hochglänzend-unterhaltsames TED-talk-brainwashing später kaum besser aus …

Einzug in die Redaktionsräume im Mehringhof, 1980.