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Neben Feyerabend. Wissenschaftsforschung neokonservativ


Reporter: Aber am Schluß wird der Alm-Öhi doch bekehrt und die Heidi geht brav in die Schule!?


Feyerabend: Eben, weil der Öhi kein Dogmatiker ist, der auf Teufel komm raus an einer vorgefaßten Meinung festhält! Er geht halt auch mal in die Kirche, um sich über deren Tradition zu informieren! Vielleicht wird er sogar, wenn ihm überhaupt nichts mehr einfällt, die Logik der Forschung lesen.
Hans Peter Duerr: Zürcher Geschnetzeltes (1980)



Sie, verehrter Intellektueller Paul Feyerabend, scheinen mir manchmal dem Reden von der Bibel (oder Vernunft oder Wissenschaft) allzusehr zu glauben. Nicht durch Vernunft und Bibel, sondern durch physische Ausrottung und materielle Ausbeutung sind die anderen Traditionen ruiniert worden. […] »Eigentum« kommt bei Ihnen im ganzen Buch nur einmal vor [...]. »Kapitalismus« kommt überhaupt nicht vor, obwohl er doch wohl die ökonomische Basis des gesamten Modells ist.
Margherita von Brentano: Brief an einen antiliberalen Liberalen (1980)



Feierabend?[•] Die Frage klingt ein bisschen nach Handtuch-Schmeißen, jedenfalls Orientierungsschwierigkeiten. Das stimmt sogar irgendwie; etwas kontraintuitiv ist es trotzdem, weil eigentlich nicht der Eindruck entsteht, dass es in Sachen ›Wissen‹ (oder Wissenschaft oder Technik) heute nichts mehr zu tun gäbe. Jedenfalls kaum weniger als vor ca. 30, 40 Jahren, als Wissenschafts-, Technik- und Wissensgeschichte noch sehr im Aufwind waren. Heute wären es Dinge wie Klimakrise und Green New Deal, Automatisierungsängste oder Covid-19-Pandemie, ›Techlash‹, Denkverbot-Hysterie, Breitbandinternet-für-alle, die die Frage nach der Rolle von Wissen in Technik, Ökonomie und Gesellschaft dringlich erscheinen lassen. Genauso wenig lässt sich behaupten, dass es dem, was mittlerweile gerne als ›Wissensgeschichte‹ firmiert, besonders schlecht ginge. Selbst Zeithistoriker_innen können sich dem kaum noch entziehen, verwenden den Begriff zumindest des Öfteren – aus naheliegenden Gründen, weil das Zeitfenster der Geschichte mittlerweile wohl tatsächlich dort angekommen ist, wo man nicht mehr nicht über Wissen sprechen kann, oder jedenfalls nicht nicht über Klima, Energie, Ressourcen, Computerisierung, Deindustrialisieurung, sozialwissenschaftliche Expertise usw.

Man muss sich dennoch fragen, ob dem Begriff ›Wissen‹ nicht womöglich etwas an analytischem Mehrwert abhandengekommen ist: insofern nämlich all diese Entwicklungen recht offensichtlich nicht nur mit ›Wissen‹ zu tun haben, sondern (wie eh und je) mit Kapitalismus, Ungleichheit, Globalisierung, Politik etc. (Die Frage wäre vielleicht also eher, wieso Wissen überhaupt jemals als Leitkategorie trug). Indizien für entsprechende Neuformatierungen der Wissenslandschaft gibt es jedenfalls zur Genüge: Institute und Forschungsinitiativen zu Anthropozän, »NHOC« (New History of Capitalism), Geschichte/Zukunft der Arbeit, Künstliche Intelligenz, China . . . – Wissen/Wissenschaft/Technik fungieren hier mal mehr, mal weniger zentral, nicht aber als Fluchtpunkt. Und tatsächlich ragen Klimakrise und Gesichtserkennung wohl etwas unmittelbarer und dringlicher ins Leben als die Aufreger, sagen wir, der 1990er Jahre: Dolly das Schaf und Gentechnik, die Neurowissenschaften, das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, und selbst – qua Cyberspace – das Internet, die große ISDN-Wissensmaschine.

Was uns im Folgenden interessiert, ist eine weitere Facette dieser Erschöpfung des Wissensbegriffs, die ebenso mit rezenten politischen Verwerfungen verschränkt ist. Als Analysekategorie ist der Begriff auch deshalb in Verruf geraten, weil das theoretische Rüstzeug, mit dem Wissen und seiner vermeintlichen Hegemonie einst beizukommen war – Kontingenzen, kulturgeschichtliche Relativierung, ›Kontext‹ usw. – heute als durchaus ambivalentes Erbe gesehen wird. ›Post-Truth‹ wäre so eine Diagnose, die uns im Folgenden zumindest indirekt beschäftigen soll, insofern damit gerne eine Art Komplizenschaft intellektueller Natur unterstellt wird: der Verdacht, dass das viele Relativieren von dem, was ›Wissen‹ oder ›Wissenschaft‹ ist bzw. war, letztendlich irgendwie mitverantwortlich ist für alle möglichen Dinge, von fake news bis hin zu grassierender Expert_innen-Skepsis.[1] Man denkt hier z.B. an die ›Postmoderne‹, Foucaults Affinitäten zum Neoliberalismus, oder – anything goes – den Namenspatron, mit Ypsilon, dieser Zeitschrift.

Dass man solche Linien ziehen kann und diese Linien historisch instruktiv sein können, versteht sich von selbst[2]; generell aber – so unser Argument – verdeckt der Fokus auf vermeintliche Post-Truth-Wegbereiter sehr viel mehr als er zu zeigen vermag. Denn notwendigerweise operiert dieser Blick mit einem sehr verkürzten Set an Statist_innen. Darüber hinaus tendiert er zu einer über-intellektualisierten Konzeption von dem, was (Geistes)Wissenschaften – bzw. was uns hier interessiert: Wissenschaftsforschung im weiteren Sinne – war. Das lässt sich sogar – »Grabe, wo du stehst« – anhand Zürcher Verhältnissen zeigen. Oder etwas vorsichtiger: Indizien für eine solche, etwas breiter angelegte Geschichte der Wissenschaftsforschung lassen sich schon ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt von der ETH Zürich finden, von wo aus Paul Feyerabend seit 1979 jungen Menschen nahelegte (so erzählt man sich), »selbst zu denken«.

»Das ›Streitgespräch‹ der Professoren Feyerabend (links) und Lübbe« anlässlich des Symposiums »Kreativität in Technik und Industrie«, Zürich 1985.

Die Wissenschaftsforschung bzw. -philosophie hatte jedenfalls auch eine Art Standbein an der Universität Zürich. Und zwar in der Person von Hermann Lübbe. Ähnlich wie Feyerabend, der ›1968‹ unter »Steinwurf und Tränengas« in Berkeley verlebte, mit den bekannten Folgewirkungen, war auch Lübbe (damals noch in Bochum) vom Erlebnis revoltierender Studierender nachhaltig gezeichnet; anders als Feyerabend ist Lübbe aber weder als bedeutender ›Wissenschaftsforscher‹ in Erinnerung geblieben – obwohl er sich durchaus einschlägig hervortat, so etwa Mitte der 1970er Jahre als Mitbegründer des sogenannten Arbeitskreises »Wissenschaftsforschung in der BRD« –, noch unbedingt als jemand, der Post-Truth zu verantworten hätte. Im Gegenteil: Es handelt sich um eine Figur, die heute gerne wieder mobilisiert wird, etwa um gegen »Klima-Moralismus« vorzugehen. Das ist, das wollen wir im Folgenden skizzieren, problematisch. Denn Lübbe und ähnlich gepolte Akteure – tatsächlich waren es fast ausschließlich Männer, die mit Labels wie Tendenzwende, Neokonservativismus, Gegenintellektualismus, Anti-Suhrkamp-Kultur u.ä. in Verbindung gebracht werden – haben hiesige Wissenslandschaften (post-1980) deutlich konkreter geprägt als Feyerabends »dadaistische« Erkenntnistheorie.

Hier ist zwar kaum der Ort, um die Geschichte der Wissenschaftsforschung im deutschsprachigen Raum ausführlicher aufzurollen. Für unsere Zwecke genügt es eigentlich aber, sich zu vergegenwärtigen, dass erstens auch hier die »Wissenschaftsforschung« in den 1970er Jahren einigermassen florierte – quasi als Korrelat zur postindustriell-technokratischen Aufbruchsstimmung. Und zweitens, dass diese Wissenschaftsforschung, anders als etwa deren kulturhistorisch inflektierte Nachkommen heute, damals noch relativ eng mit Forschungsorganisation, Wissenschaftspolitik, Innovationspolitik – allesamt Trendformeln der 1960/1970er Jahre – verflochten war. »Wissenschaftsforschung untersucht«, hieß es dementsprechend im Memorandum zur Förderung der Wissenschaftsforschung in der Bundesrepublik Deutschland (1973) des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft, »die historischen, aktuellen und künftigen Bedingungen der Wissenschaftsentwicklung und die damit eng zusammenhängende anwendungsorientierte Frage nach den Bedingungen ihrer Regelung und Beeinflussung (Steuerbarkeit)«. Oder wie es in Probleme der Großforschung (1970) lautete: Die »Rationalisierung der Wissenschaftspolitik hat […] eine außerordentliche Dringlichkeit«. Ebenso dringlich sei es deshalb, eine »neue Disziplin (oder eigentlich ein cluster von Disziplinen), die man provisorisch ›Forschungswissenschaft‹ nennen könnte«, zu entwickeln.[3]

Anders gesagt: In jenen Jahren drehte sich dieser »cluster von Disziplinen«, wie Lübbes Mitstreiter in der bereits erwähnten AG Wissenschaftsforschung, Gerard Radnitzky, 1976 anlässlich eines intimen »Kleingruppenkongresses« der Fritz-Thyssen-Stiftung festhielt, mehr oder weniger explizit um »Planung« bzw. deren Kritik – und damit um grundsätzliche Fragen der »Steuerung«, »Qualitätskontrolle«, »Autonomie« der Wissenschaft, »Prioritätenfestsetzungsproblematik«, »ausserwissenschaftliche Kriterien« etc.[4] Konflikte ideologischer Natur waren somit vorprogrammiert. Ebenfalls 1976, just dem Jahr, in dem Feyerabends Wider den Methodenzwang auf dem deutschen Buchmarkt reüssierte, lancierte Radnitzky, damals frisch gebackener Professor für Wissenschaftstheorie in Trier, zusammen mit Lübbe und dem Philosophen Kurt Hübner aus eben diesem Grund den besagten Arbeitskreis »Wissenschaftsforschung in der BRD«. Anlass war allerdings nicht anything goes, sondern »Starnberg«; genauer, das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der technisch-wissenschaftlichen Welt sowie überhaupt all jene intellektuellen Projekte, die Lübbe und Radnitzy als »sogenannte kritische« Wissenschaftsforschung und -geschichte identifizierten. Darunter fielen Namen wie John D. Bernal und Boris Hessen oder Unternehmungen wie Robert M. Youngs »radical historiography of science«, die auch in der BRD ihre Anhänger fanden. All diese Projekte drehten sich, wie Radnitzky beanstandete, letztendlich um die »Entlarvung des Wissenschaftsbetriebs als Veranstaltung des ›spätkapitalistischen‹ Verwertungsinteresses«.[5] Ferner machte sich diese kritische Wissenschaftsforschung, vertreten in West-Deutschland etwa durch die Starnberger Wolfgang Krohn, Gernot Böhme und Wolf Schäfer, für Lenkung und Mitbestimmung stark – also demokratische Kontrolle staatlich finanzierter Forschung (damals unter dem Stichwort »Finalisierung« diskutiert). Beides – historisch-soziologische Kritik am Wissenschaftsbetrieb sowie Demokratisierungsansprüche (bzw. ein »instrumentelles« oder gar »vulgär-pragmatisches« Wissenschaftsverständnis) – war der Arbeitskreis »Wissenschaftsforschung«, dessen Mitglieder sich aus dem Dunstkreis der genannten »Tendenzwende« rekrutierten, ein Dorn im Auge. Derartige »Legitimierung von Ansprüchen, die Wissenschaften steuern zu können und steuern zu sollen« lehnten sie als Vorstufen »ideologisch verplante[r] Forschung« ab.

Wie Ariane Leendertz ausführlich gezeigt hat, kann die sich hier entladende »Finalisierungsdebatte« – die Auftakt-Tagung des Arbeitskreises hieß entsprechend »Gefährdete Wissenschaft« – unschwer als Symptom sich intensivierender, wirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Inanspruchnahmen des Wissenschaftsbetriebs dechiffriert werden. Auf der einen Seite: die mehr oder weniger sozial-bewegten Vertreter_innen der »kritischen« Wissenschaftsforschung; auf der anderen Seite: Akteure wie Lübbe und Radnitzky, die die »Freiheit« der Wissenschaft durch staatliche Steuerung und »marxistisch-leninistische« Umtriebe gefährdet sahen. Die Idee, »daß die Wissenschaft nichts anderes sei als ein Mittel zur Lösung von praktischen Problemen«, ebenso wie die Demokratisierungsbestrebungen, die sich mit ›1968‹ verknüpften, seien stets nur einen Schritt weit entfernt von der Propagierung einer »Deutschen Physik« im Nationalsozialismus oder vom Lyssenkoismus unter Stalin. So zumal Radnitzky, der 1972 aus Schweden in die BRD rückübersiedelt war – zunächst an die neugegründete Ruhr-Universität Bochum, ab 1976 dann an die »Wissenschaftskolchose« Trier. (Im sozialdemokratischen Schweden war es aus seiner Sicht schon seit längerem mit der »Freiheit […] bergab« gegangen).[6] Man hatte sich, wie Radnitzky gerne betonte, in der deutschen Geschichte bereits zwei »Angriffe auf die Universität« bzw. den »Wahrheitsbegriff« mitanschauen müssen: einen 1933, den anderen 1968. Die (irrationalen) »Peace Movements« der frühen 1980er Jahre würden ganz analoge Probleme bereiten.[7] Ähnlich sah es Lübbe, ein Mitinitiator des Bundes Freiheit der Wissenschaft, der in »Gruppenuniversität« und »Massenakademisierung«, in »Zivilisationskritik« und »Wissenschafts- und Technikfeindschaft« vor allem »Erscheinungen einer Gegenaufklärung« erkannte, die die Grundfesten der Wissenschaft in Gefahr brächten.[8] Gegenüber derartig politisch-dogmatischer Vereinnahmung des Wissenschaftsbetriebs beharrten Lübbe, Radnitzky und Mitstreiter auf der (vorgeblich unpolitischen) »Autonomie« und »Wertfreiheit« von Wissenschaft, die der »Wahrheit als regulative Idee« verpflichtet sei. Dementsprechend forderte Radnitzky schon 1975, damals noch Professor für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte an der Reformuniversität Bochum: »Tendenzwende in der Wissenschaftsforschung«.[9] (Denn bereits gab es Politiker_innen wie Hertha Firnberg, österreichische Ministerin für Wissenschaft und Forschung unter Kreisky, die sich marxistische Thesen zu eigen machten).

Das klingt erst mal staatstragend und vernünftig (vernünftiger vielleicht als anything goes). Tatsächlich aber – und hier nähern wir uns dem springenden Punkt – war das ideologische Projekt von Radnitzky und Lübbe, welches vorgeblich um »kritischen Rationalismus«, »Aufklärung«, »Autonomie« und dergleichen kreiste, durchaus kompatibel mit genau denjenigen universitätspolitischen Weichenstellungen, die, wenn man so will, nun die Post-Modernisierung des Wissens einleiteten. Das Insistieren auf Aufklärung und Wahrheit, auf Wissenschaft um ihrer selbst willen und »depolitisierte« Forschung, war nämlich nur die eine Seite der Medaille; die andere war die quasi-rituelle Beschwörung von Eliten, Wettbewerb und Auslese, von Fortschritt (und dessen Unausweichlichkeit), und von Drittmitteln, Kommodifizierung und Privatisierung von Wissenschaft – alles Dinge, die unseren heutigen, sogenannten Post-Truth-Moment imprägnieren . . . deutlicher als anything goes. »Drittmittel« seien in jedem Fall »das sicherste Mittel, die Einfälle, die man hat, unter Kontrolle zu halten«, betonte Lübbe 1985 in Zürich im Streitgespräch mit Feyerabend (s.o.).[10] Allein das freie Spiel der Kräfte, so die Denkfigur, könne wissenschaftliche Autonomie (oder jedenfalls Pluralität) garantieren – und damit Wahrheit und ›unpolitisierte‹ Forschung, frei von staatlicher Planung. Genauso wie das Privatfernsehen nun die Meinungsfreiheit zurückbringen sollte, würden Marktmechanismen endlich auch die Freiheit der Wissenschaften gewährleisten. (»Universitäten« und »Gymnasien«, wusste der Wissenschaftstheoretiker Radnitzky, seien Horte des »Links-Eklektizismus« – analog den »staatsmonopolistische[n] elektronischen Medien, viele[n] Feuilletonredaktionen und ähnliche[n] Einrichtungen«).[11] Nicht viel anders, nämlich marktorientiert, verhielt es sich mit der »überfälligen, elitetreibenden Differenzierung« des Hochschulsystems, die nach Lübbe schlicht deshalb nötig war, weil sich »Egalität«, das Ideal, auf dem die Universitätsreformen der 1970er Jahre zumindest teilweise beruhten, als »Phantom« erwiesen hätte; und weil es ohne Eliten und »elitebegünstigende Einrichtungen« keine »Spitzenforschung« geben könne; und ohne Spitzenforschung keine wirtschaftliche Zukunft für den Standort Deutschland (oder Schweiz).[12]

Nun kokettierte zwar Feyerabend selbst gerne mit so einem »Supermarkt der Ideen« (und entsprechenden Vorschlägen zur radikalen Trennung von Staat und Wissenschaft: etwa dem, lediglich »Privatuniversitäten« sollten »intellektuelle Güter an […] gewitzte Käufer (die Studenten)« verkaufen).[13] Dennoch war das Projekt jener Erkenntnistheorie »für freie Menschen«, mit der Feyerabend (nach Selbstauskunft) etwa auch »Bardamen, LKW-Fahrer und Stammesangehörige der Gros Ventre« adressieren wollte, recht offensichtlich ein anderes als das von Neocons wie Radnitzky und Lübbe, die vor allem den Roll-back emanzipativer Bestrebungen im Auge hatten. Wo Feyerabend also Sympathien für Hopi, Astrologie oder chinesische Medizin hegte, beklagte Radnitzky den »Fetisch der Gleichheit«, die »Unterdrückung eines Gedenkens an deutsche Opfer des Zweiten Weltkrieges« und kritisierte die Bemühungen um »alternative Wissenschaft« als »pure Ideologie«.[14] Lübbe, der für Vergangenheitsbewältigung und alternative Lebensstile ebenfalls nicht viel übrig hatte, sorgte sich indessen ob der Ursachen der »neuen Wissenschaftsskepsis«, die er vorwiegend in diversen »Subkultur[en] der Verweigerung« ausmachte (nicht aber etwa als legitime Kritik herrschender Verhältnisse verstanden haben wollte).[15] Wo sich derartige Positionen diskursiv durchaus trafen – Radnitzky hob überdies seine freundschaftliche Verbundenheit mit Feyerabend hervor –, war die gewisse Skepsis gegenüber allem, was man als totalitär ablehnte: »Dogma« bzw. »Staat« bei Lübbe und Radnitzky; die Verflechtung von Staat und Wissenschaft als »Ratiofaschismus« bei Feyerabend. (Auch auf Marx waren weder Radnitzky noch Lübbe noch Feyerabend gut zu sprechen.) Der große Unterschied ist nun allerdings der: Feyerabend, der, glaubt man seinen Memoiren Zeitverschwendung, viel Zeit mit Frau Grazia und Hund Spund verbrachte, Perry Mason guckte und dann und wann in Zürcher »Nobelbude[n]« speiste, dürfte – die eine oder andere Vorlesungsbesucher_in ausgenommen – kaum Einfluss auf den Gang der Geschichte gehabt haben. Lübbe und Radnitzky haben es zumindest versucht. Radnitzkys Welt war die der mondän-semi-konspirativen Tagung (Forum Alpbach, die »Interlaken-Seminare« des Schweizer Monetaristen Karl Brunner, die Professors World Peace Academy u.ä.); Lübbe galt bestimmten Zeitgenossen gar als »Sprachrohr einer außerakademischen, politischen Mission«, die er in »geradezu leninistischer Manier« verfolgte.[16]

In Interlaken, ca. 1989

Man muss sich solche (sozusagen) kaum objektiven Einschätzungen nicht einmal zu eigen machen, um zu sehen, dass Lübbes message – die Notwendigkeit von »Eliten« und »curiositas« trotz resultierender »Schädlichkeitsnebenfolgen des Zivilisationsprozesses«[17] – auf ziemlich vielen Kanälen zu vernehmen war: vom Geschäftsbericht der Bank Julius Bär & Co. AG über das Magazin des Vereins Deutscher Eisenhüttenleute bis hin zu Aral-Journal, Schweizer Monatshefte, Elektrotechnische Zeitschrift, Atom-Strom, Hamburger Ärzteblatt, Apothekerzeitschrift, IBM Nachrichten . . . – offenbar herrschten hier wenig Berührungsängste. Durchaus konsequent, insofern, laut Lübbe, »die Forschung in wissenschaftlichen Institutionen möglichst nah bei den Abnehmern der Produkte sein soll[te]«.[18] Über das Irrsal der »Wissenschafts- und Technikfeindschaft« missionierte Lübbe jedenfalls mit Vorliebe im Dunstkreis der Mächtigen: Thyssen Stiftung, Ludwig-Erhard-Stiftung, Walter-Raymond-Stiftung, Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, VDI, IBM, Daimler-Benz, Siemens AG. Sehen kann man das außerdem anhand von Lübbes Verwicklungen in Sachen (gescheiterte) Akademie der Wissenschaften zu Berlin – »ein Lehrstück neokonservativer Wissenschaftspolitik«, wie manche Zeitgenossen urteilten; oder anhand seiner Tätigkeit als Experte für das Vorzeigeland des hochtechnologischen Fortschritts, Baden-Württemberg, wo es galt, »die vorhandenen Innovationschancen gegen Pessimismus und Krisenpropaganda [zu] verteidig[en]«.[19] Oder: im Gästebuch des konservativen Think-Tanks Weikersheim, wo sich einmal mehr die Wege von Radnitzky und Lübbe kreuzten. So z.B. 1983, anlässlich des Symposions »Die Stellung der Wissenschaft in der modernen Kultur«, wo sich die umtriebigen Wissenschaftsforscher unter allerlei Würdenträger aus Politik, Wirtschaft und Militär mischten, um die »geistig-politische Erneuerung« voranzutreiben.

Lübbe recycelte dort einmal mehr seine Thesen zu »Eliten« (samt Exkurs zu den »prinzipiell gleichverteilungsunfähig[en]« »Begabungsunterschieden«, deren Verleugnung »auch unsere Wissenschaftskultur erheblich geschädigt hat«). Radnitzky gab bei der Gelegenheit die These zum Besten, dass die »›Technikfeindlichkeit‹ der westeuropäischen ›Intellektuellen‹« mitverantwortlich sei, »die Konkurrenzsituation Westeuropas insbesondere gegenüber Japan, einem Land mit intaktem Leistungsethos und marktwirtschaftlicher Ordnung, zu verschlechtern«.[20] Radnitzky, Mitglied der Mont Pèlerin Society immerhin, driftete in den Folgejahren immer weiter nach rechts –, um in einschlägigen Zeitschriften wie Criticòn, eigentümlich frei, Cato oder Junge Freiheit zunehmend unverhohlen gegen »Politische Korrektheit«, »Wissenschaft im Würgegriff der Parteien« oder die EU als »global tax-cartel« anzuschreiben. Noch 1991 (mittlerweile stolze 70) agitierte Radnitzky gegen die »Politisierung des Hochschulwesens« durch »Massenuniversität, »Chancengleichheit« und »Asta-Funktionäre«. Alle Hoffnung setzte Radnitzky – mit dem konservativen Ökonomen James Buchanan – auf Privatuniversitäten und Think-Tanks, deren elitäre Wissenskulturen einen pluralen, kompetitiven »Markt der Ideen« ermöglichen würden.[21]

Wie einflussreich die beiden Wissenschaftsforscher damit waren, sei hier dahingestellt;[22] letztlich ist dies eine empirische Frage – eine von vielen, denen sich eine zeitgemäße Wissensgeschichte anzunehmen hätte. Bekanntlich aber wurden in den 1980er Jahren Hochschulreformen zurückgerollt und Weichen gestellt für eine neoliberal-restaurative Umgestaltung der Universitäten. »Supermarkt der Ideen«, in dem sich jeder an allem bedienen können sollte, ist insofern etwas irreführend. Denn Weichenstellung bedeutete damals etwa auch: Rückbau von Partizipationsmöglichkeiten und demokratischer Mitbestimmung, sei es auf Uni-Ebene, sei es in gesellschaftspolitischen Fragen – etwa im Trubel um »Spitzentechnologien« und »Informationsgesellschaft«, den Lübbe denkerisch untermalt hat. »Fragen der Gestaltung der sozialen Form von Technologien tr[a]ten demgegenüber zurück«.[23] Also nicht unbedingt im Sinne von Feyerabend, der sich dann doch eher für »Bürgerinitiativen« stark machte, »die der einmütigen Meinung von Gelehrten zum Trotz in Gang gesetzt w[u]rden«. Demgegenüber beschworen Lübbe, Radnitzky und Konsorten vor allem die Unausweichlichkeit des Fortschritts, dessen Ursachen und Folgen in dieser Variante der Wissenschaftsforschung dann auch nicht allzu tief auf den Grund gegangen wurde; alles andere wäre ja »kritische« Wissenschaftsforschung (und damit ideologisch und irrational).

Wem der Fortschritt lieb war, wer Elite-Universitäten bauen wollte, wer sich um mangelnde Industrienähe und Standort-Bedingungen sorgte und wer also das Liebäugeln mit ›Alternativen‹ als Abweichen vom rechten Kurs wahrnehmen musste, konnte im Zweifelsfall mit Feyerabend wenig anfangen; als Staatsmann höherer Vernunft profilierte sich Feyerabend jedenfalls nicht. (»Wissen Sie, daß mir eine gute Pizza al funghi tausendmal wichtiger ist als die Lösung des Guddmännschen »Riddles [sic] of Induction« […] ?«, u.ä.). Vielmehr drängt sich der Verdacht auf, dass die Effekte, die gerne der Postmoderne, der relativistischen Wissenschaftstheorie, dem Feminismus und ähnlichen Unternehmungen in die Schuhe geschoben werden, Genealogien aufweisen, die mit einem Buch wie Wider den Methodenzwang wenig zu tun haben. Umso mehr aber mit dem von konservativ-neoliberaler Seite herbeigesehnten »Markt der Ideen« bzw. den entsprechenden Umbauten der Forschungslandschaft. Feyerabends influence in punkto Erosion der Wahrheit dagegen war im Zweifelsfall wohl gar nicht so schlimm – und tendenziell beschränkt auf den Markt der Bücher, irgendwo zwischen Suhrkamp und dem Karin Kramer Verlag. Akteure wie Lübbe jedoch, der immer schon mit einem Bein in der Politik gestanden hatte – von 1966 bis 1970 als Staatssekretär im Kulturministerium von Nordrhein-Westfalen (zwar »glücklos«, wie man munkelte) – oder Radnitzky, der seine Wissenschaftsforschung stets als »das Erbringen von Serviceleistungen« verstanden haben wollte, entfalteten ihre Wirkung tendenziell auf anderen Ebenen. Obwohl, oder weil, deren Werk intellektuell bestenfalls spröde war, konnte es handgreifliche Wirkungen entfalten: im Namen von »Rationalität«, »Wahrheit« und »Objektivität« engagierten sich Wissenschaftsforscher vom Typus Radnitzky und Lübbe stets eifrig für Leistung, Eliten, Wettbewerb, Selektion, für Markt, Wirtschaft, Privatuniversitäten – und also stets auch gegen die Geisteswissenschaften (jedenfalls verstanden als »kritische« Geisteswissenschaften).[24] Der optimistische Hyperdemokratismus eines Feyerabend mag uns heute, nach 40 Jahren »Supermarkt der Ideen«, auch deshalb fremd geworden sein. Doch wie schon Zeitgenoss_innen bemerkten, dürfte anything goes hier uns allerdings ohnehin nicht weiterhelfen. Denn »›Kapitalismus‹« kommt [dort] überhaupt nicht vor«.[25]

Max Stadler/Monika Wulz

[•] Erschienen in Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte (2020): »Feierabend?«, deshalb der Titel etc. [1] Ausführlicher zu diesem Verdacht siehe z.B. Steven Shapin: »Is There a Crisis of Truth?«, in: Los Angeles Review of Books, 2.12.2019. [2] Siehe insb. Michael Hagner: »Wider den Populismus. Paul Feyerabends dadaistische Erkenntnistheorie«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 14 (2017), S. 369–75; Philipp Sarasin: »›Anything goes‹. Paul Feyerabend und die etwas andere Postmoderne«, in: Geschichte der Gegenwart, 11.9. 2019. [3] Gerard Radnitzky, Andersson Gunnar: »Einführung«, in: Alvin Weinberg: Probleme der Großforschung. Mit einer Einführung: »Wissenschaftspolitik und Organisationsformen der Forschung« von Gerard Radnitzky und Gunnar Andersson und einem Anhang: »Die Forschungspolitik der BRD« von Rainer Rilling, Frankfurt a.M. 1970, S. 9; S. 64. [4] Gerard Radnitzky: »Bericht: Prinzipielle Problemstellungen der Forschungspolitik«, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 7 (1976), S. 367–403, hier S. 396 passim. [5] Radnitzky: »Bericht«, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, a.a.O., S. 395. [6] Hardy Bouillon: »Gerard Radnitzky: Vom Wissenschaftstheoretiker zum Politischen Philosophen«, in: Aufklärung und Kritik 13, 2006, Heft 2, S. 206–216, hier S. 207, S. 216. [7] Gerard Radnitzky: »Die Unfähigkeit zur ideologischen Auseinandersetzung«, in: Leo Gabriel, Gerard Radnitzky und Erwin Schopper (Hg.): Die I-Waffen. Information im Kräftespiel der Politik, München 1982, S. 9–90, hier S. 21f. Gerard Radnitzky: »Are the Peace Movements Pace-Setters or Pitfalls for Peace?«, in: Peter van den Dungen (Hg.): West European Pacifism and the Strategy for Peace, London 1985, S. 99–125. [8] Siehe etwa Hermann Lübbe: »Aufklärung und Gegenaufklärung«, in: Michael Zöller (Hg.): Aufklärung heute. Bedingungen unserer Freiheit, Zürich 1980, S. 11–27, hier S. 16. [9] Gunnar Andersson und Gerard Radnitzky: »Kritische oder traditionelle Wissenschaftsforschung?«, in: Wirtschaft und Wissenschaft 23, 1975, S. 9–11, hier S. 11. [10] Zitiert in: Romy Gygax: Standpunkte und Bemerkungen zu Kreativität in Technik und Industrie am STR Symposium 1985, Zürich 1985, S. 41. [11] Radnitzky: »Unfähigkeit zur ideologischen Auseinandersetzung«, in: Gabriel: Die I-Waffen, a.a.O., S. 52. [12] Siehe u.a. Hermann Lübbe: »Die Egalität erweist sich als Phantom«, in: Hochschulpolitische Informationen 11 (1980), Heft 6, S. 3–6; Hermann Lübbe: »Eliten in der egalitären Gesellschaft«, in: Wirtschaftswissenschaftliches Forum der Universität Karlsruhe (Hg.): Beschäftigung und Technologietransfer. Beiträge zur Wirtschaftspolitik, Königstein 1985, S. 27–46, hier S. 39. [13] Paul Feyerabend: »Das Märchen Wissenschaft. Plädoyer für einen Supermarkt der Ideen«, in: Kursbuch 53: Utopien II. Lust an der Zukunft, Augsburg 1978, S. 47–70, hier S. 68. [14] Siehe u.a. Gerard Radnitzky: »Das Verhältnis von individuellen Freiheitsrechten und Sozialrechten. Zeitgeist im Zeichen des Fetisch der Gleichheit«, in: Lothar Bossle und Gerard Radnitzky (Hg.): Selbstgefährdung der offenen Gesellschaft, Würzburg 1982, S. 63–125; Gerard Radnitzky: »Wissenschaft im Würgegriff der Parteien«, in: Criticón 116 (1989), S. 291–293; Gerard Radnitzky: »Die verbotene Trauer«, in: Junge Freiheit 47 (2002), S. 17. [15] Siehe z.B. Hermann Lübbe: »Orientierungskrise – Sozialer Wandel als intellektuelle und politische Herausforderung«, in: IBM Nachrichten 28 (1978), S. 329–38. [16] Helmut Dubiel, Wieland Elfferding, Ulf Kadritzke, Monika Oubaid und Hilde Schramm: Streitschrift gegen die »Akademie der Wissenschaften zu Berlin«. Ein Lehrstück neokonservativer Wissenschaftspolitik, Berlin 1986, S. 13. [17] Hermann Lübbe: »Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit. Ursachen und Auswirkungen«, in: atel Mitteilungen. Hauszeitung der Aare-Tessin AG für Elektrizität 112 (1982), S. 13–16, hier S. 16. [18] Zitiert in: Gygax: Standpunkte und Bemerkungen, a.a.O., S. 41. [19] Siehe Dubiel: Streitschrift gegen die »Akademie der Wissenschaften zu Berlin«, a.a.O.; Bericht der Kommission »Zukunftsperspektiven gesellschaftlicher Entwicklungen«, erstellt im Auftrag der Landesregierung von Baden-Württemberg, Stuttgart 1983, S. 26. [20] Studienzentrum Weikersheim e.V. (Hg.): Die Stellung der Wissenschaft in der modernen Kultur, Mainz 1984, S. 153, S. 242. [21] Radnitzky: »Wissenschaft im Würgegriff «, a.a.O.; Gerard Radnitzky: »Die Universität als ordnungspolitisches Problem«, in: Hardy Bouillon und Gerard Radnitzky (Hg.): Die ungewisse Zukunft der Universität. Folgen und Auswege aus der Bildungskatastrophe, Berlin 1991, S. 9–56, hier S. 44 passim; Gerard Radnitzky: »Think-tanks für die Marktwirtschaft – Werkstätten einer freien Gesellschaft«, in: Schweizer Monatshefte 72 (1992), S. 267–74. Zu Buchanan siehe Nancy MacLean: Democracy in Chains: The Deep History of the Radical Right’s Stealth Plan for America, London 2017. [22] Zumal Radnitzky bedauerte noch zu Beginn der 1990er Jahre die Zustände an deutschen Universitäten: »In Deutschland besteht [in Sachen Universität], von wenigen, vernachlässigbaren Ausnahmen abgesehen, ein staatliches Angebotsmonopol – insgesamt das perfekte Gegenteil eines freien, privaten Marktes«. Siehe Radnitzky: »Die Universität als ordnungspolitisches Problem«, in: ders., Die ungewisse Zukunft der Universität, a.a.O., S. 9. [23] Siehe etwa das Kapitel »Cleverle und die Postkonservativen« in: Claus Leggewie: Der Geist steht rechts. Ausflüge in die Denkfabrik der Wende, Berlin 1987. Zitiert ist Werner Väth: »Konservative Modernisierungspolitik – ein Widerspruch in sich? Zur Neuausrichtung der Forschungs- und Technologiepolitik der Bundesregierung«, in: Prokla 56 (1984), S. 83–103, hier S. 86. [24] Siehe z.B. (zum Fall Baden-Württemberg) Hans Peter Hermann: »Abschaffung der Geisteswissenschaften. Zum aktuellen Dilemma wachstumsorientierter Bildungspolitik«, in: Josef Fuckerieder u.a. (Hg.): Neue Technologien – neue Gesellschaft? Gewerkschaftliche Überlegungen und Antworten, Freiburg 1988, S. 171–195. [25] Margherita von Brentano: »Brief an einen antiliberalen Liberalen«, in: Hans Peter Duerr (Hg.): Versuchungen. Aufsätze zur Philosophie Paul Feyerabends (I. Band), Frankfurt a.M. 1980, S. 284–298, hier S. 297.